Serie Dematerialiserung: ​Erde 5.0 – Die Zukunft provozieren

Klimawandel, Ressourcenvergeudung, Überbevölkerung, Hunger, Armut, Ungleichheit – der Zustand des Planeten und seiner Ökosysteme ist denkbar schlecht. Die Zukunftsaussichten der Menschheit insgesamt sind düster. Doch die Digitalisierung und der technologische Fortschritt eröffnen noch gerade rechtzeitig die Chance, die gravierenden Probleme der Welt ein für allemal zu lösen.

Von Karl-Heinz Land

Binnen der nächsten 100 Jahre müsse die Menschheit in der Lage sein, den Planeten Erde zu verlassen. Diese Mahnung stammt von einem der klügsten Köpfe der Neuzeit, dem kürzlich verstorbenen Astrophysiker Stephen Hawking. Er war sich sicher, dass nur so das Überleben der Spezies Mensch zu sichern sei. Ein neuer Planet, ein neues Zuhause für die Menschheit? Bei dieser Frage vermischen sich ernsthafte Wissenschaft und Science-Fiction. Die Menschen, trotz erneuter Anstrengungen, das Weltall zu erobern, ist von weitreichenden Expeditionen ins All, geschweige denn der Besiedlung anderer Welten noch weit, weit entfernt. In der kurzen Zeitspanne, die wahrscheinlich bleibt, bis die Biosphäre der Erde ins Chaos stürzt, erscheint intergalaktischer Kolonialismus nicht als ernsthafte Option.

Gleichwohl verbrauchen die Menschen – in Industriestaaten durch ihren Konsumrausch, in den Entwicklungsländern durch ihren Nachholbedarf – mehr Ressourcen, als die Natur erneuern kann. Der WWF warnt regelmäßig: Eigentlich brauchen wir einen zweiten Planeten. Würde jeder Mensch auf der Erde soviel konsumieren wie wir Deutschen, wäre sogar ein dritter Planet vonnöten. Und die US-Amerikaner benehmen sich so, als hätten sie gleich fünf Erden zu Verfügung. Gleichzeitig verhungern nach wie vor hunderte Millionen Menschen jedes Jahr. Der Klimawandel bedroht die ohnehin begrenzten Möglichkeiten, im Afrika südlich der Sahara Lebensmittel zu produzieren. Die Wasserversorgung ist in vielen Gebieten schlecht, die Qualität des Wassers erbärmlich. Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 nimmt die Ungleichheit nicht etwa ab, sondern in solchem Ausmaß zu, dass selbst der Internationale Währungsfond (IWF), einer der Gralshüter des Kapitalismus, vor den Auswirkungen warnt. Armut bleibt eines der Hauptprobleme der Welt. Die gefeierten Klimaziele von Paris sind bereits wieder in weite Ferne gerückt. Nicht einmal Deutschland, das sich für seine Energiewende feiern lässt, erreicht seine eigenen Vorgaben. Und so lange ein bevölkerungsreiches Land wie Indien darauf setzt, hunderte Millionen Menschen mit Hilfe der Stromerzeugung durch Steinkohle aus der Armut zu führen, lässt sich der Ausstoß schädlicher Klimagase auch nicht reduzieren.

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Der zweite Planet ist digital

Egal wohin man schaut – prozentuale Verbesserungen der Situation der Menschen und begrüßenswerte, erfolgreiche Projekte zur Rettung der Umwelt reichen nicht aus, um die Perspektiven gravierend zu verbessern. Die Menschheit braucht einen neuen Plan, ein Konzept, um wirklich disruptive, durchschlagende Wendungen zum Guten zu erreichen. Sie muss sich selbst wieder in die „Grenzen des Wachstums“ verweisen, die der Club of Rome bereits Anfang der 1970er-Jahre aufzeigte. Und diesen Plan gibt es. Ich nenne ihn „Erde 5.0“. Der zweite Planet liegt nicht draußen im All, sondern zu unseren Füßen. Der zweite Planet ist digital.

Die Digitalisierung mit ihrer exponentiellen Leistungszunahme ist der Schlüssel zu einer lebenswerten Zukunft für bald schon elf oder mehr Milliarden Menschen auf der Welt. Sie ermöglicht ein sozial und wirtschaftlich gerechteres Miteinander und reduziert den Verbrauch an Ressourcen deutlich. Wir erleben derzeit, wie der exponentielle Faktor der Digitalisierung greift und sich ein neuer Chancenraum eröffnet. Eine Innovation folgt auf die nächste, nicht nur in der digitalen Welt, sondern auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen und in der Grundlagenforschung. Künstliche Intelligenz durchdringt mehr und mehr alle Systeme, sorgt für Voraussicht und Effizienz. Die Blockchain bringt Sicherheit und Vertrauen in die Netze und in die Transaktionen. Mit dem Internet der Dinge, das in Wahrheit eher ein „Internet der Services“ ist, entsteht ein engmaschiges Geflecht, das potentiell allen Menschen Zugang zu Information, Bildung, Kapital, Medizin und Produktionsmitteln geben kann. Das Internet der Dinge ist die neue Infrastruktur des Wohlstands. Robotik und der 3D-Druck – eine der Schlüsseltechnologien der Zukunft – entwickeln sich rasant.

Karl-Heinz Land: „Erde 5.0 – Die Zukunft provozieren“ ist nicht nur ein Buch, sondern Ausgangspunkt einer Initiative, um die Digitalisierung und den technologischen Fortschritt gezielt für eine gerechte, lebenswerte, zukunftsfähige Welt zu nutzen.

In vielen staatlicher Entwicklungsgesellschaften und großen wie kleinen Nicht-Regierung-Organisationen (NGOs) kommen diese Technologien bereits zum Einsatz. In großartigen Projekten wird ausprobiert und gezeigt, wie der Regenwald geschützt werden kann, wie sich die landwirtschaftliche Produktion in der dritten Welt steigern und verbessern lässt, wie Gesundheitsdienstleistungen selbst in entlegenste Gegenden gelangen und wie der Bildungsstandard gesteigert werden kann.Aber die großen, wesentlichen Zusammenhänge in der digitalisierten Welt werden geflissentlich übersehen oder negiert. Dabei besteht kein Zweifel: Was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert. Was vernetzt werden kann, wird vernetzt. Was automatisiert werden kann, wird automatisiert. Deshalb werden im Zuge der Digitalisierung nicht nur die Zugänge zu den Wohlstandsfaktoren demokratisiert, sondern es kommt auch zu einem Effekt, der in den gesellschaftlichen Debatten noch geflissentlich übersehen wird: Dematerialisierung.

Megatrend Dematerialisierung

Produkt für Produkt verwandelt sich in Software, in eine App, in eine Anwendung im Internet. Und mit jedem physischen Produkt, das in Bits und Bytes übergeht, verschwinden Fabriken, Maschinen, Arbeitsplätze. In Deutschland schließen tausende Bankfilialen, und in der Automobilindustrie stehen zigtausende Jobs auf der Kippe. Das ist „Dematerialisierung live“. Durch den Trend zur Share Economy werden solche Effekte noch weiter verstärkt. Wenn Teilen das neue Haben ist, werden weniger Konsumgüter produziert. Die Dematerialisierung sorgt dafür, dass der alte Traum der Umweltschutzbewegung, nämlich eine Reduzierung der Stoffströme um Faktoren und nicht um ein paar Prozent, endlich Wirklichkeit wird. Zum Gesamtbild gehört aber auch, dass die Arbeit verschwinden wird. Wenn Roboter sich ihre eigenen Maschinen bauen, künstliche Intelligenzen Software schreiben und die Produktionssysteme der Zukunft vollautomatisiert laufen, ohne dass sie den Menschen benötigen, dann sehen wie den Beginn der fünften industriellen Revolution. Cyberphysische und autarke Technologien werden diese Phase bestimmen und für enorme Produktionsschübe sorgen.

Leider sind viele Staaten – wie Deutschland – und internationale Organisationen auf diesem Auge noch völlig blind. Das gilt auch für die Vereinten Nationen (UN), die mit den Sustainable Development Goals (SDG) ein ambitioniertes Entwicklungsprogramm aufgelegt haben. Bis 2030 wollen sie Hunger und Armut besiegen, den Gesundheits- und Bildungsstandard der Menschen deutlich steigern, für Arbeit und zunehmenden Wohlstand in den Entwicklungsländern sorgen, die Ungleichheit bekämpfen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Frauen durchsetzen. Einmal abgesehen davon, dass diese Ziele in nur elf bis zwölf Jahren nicht zu erreichen sein werden, lassen sie die Chancen und Risiken der fortschreitenden Digitalisierung völlig außer Acht. Die Grundannahmen der SDGs –Wirtschaftswachstum und deutlich mehr Arbeit – werden nicht eintreten. Die auch „Agenda 2030“ genannte Initiative ist zum Scheitern verurteilt.

Die Zukunft provozieren

Die Entscheider auf internationaler wie nationaler Ebene müssen umdenken und sich auf ein „digitales Mindset“ besinnen. Und zwar jetzt. Dabei geht es natürlich um Technologie. Wohlstand in den Industrienationen und Entwicklung in der Dritten Welt hängen künftig davon ab, inwieweit die Menschen, die Unternehmen und auch die Verwaltungen mit der neuen Infrastruktur des Wohlstands verbunden sind. Deshalb ist auch die Forderung berechtigt, den Zugang zum Internet als Menschenrecht durchzusetzen. Aber es wäre kurzsichtig, wenn sich die Debatten um die Zukunft auf digitale Technologien zu begrenzen. Diese gilt es zu verstehen und zu beherrschen, denn sie werden als Matrixfunktion alle Bereiche des Lebens durchdringen. Die entscheidenden Themen sind jedoch andere: Statt ständig gut gemeinte, aber leere Versprechungen zu Arbeit und Wohlstand abzugeben, müssen – im internationalen Verbund wie national – neue gesellschaftliche Konsense gefunden und Visionen für das Zusammenleben entwickelt werden. Der Kapitalismus, so er denn überleben soll und will, braucht ein Update. Das bedingungslose Grundeinkommen ist sowohl in den Entwicklungsländern als auch in den (noch) wohlhabenden Industriestaaten längst zu einer ernstzunehmenden Option gereift.

Aber es wird nicht damit getan sein, mittels Grundeinkommen den Menschen eine neue wirtschaftliche Grundlage zu geben. Die Wirtschaft muss ihre Zielsysteme verändern. An die Stelle des „Shareholder Value“ tritt der Social Societal Impact (TSI), der den positiven Wertbeitrag eines Unternehmens zur Gesellschaft misst. Und damit nicht genug: Dieser betriebswirtschaftliche Wert fordert eine Entsprechung auf volkswirtschaftlicher Ebene. Das gängige „Bruttoinlandsprodukt“ misst einfach nicht die sozialen und ökologischen Effekte der Wirtschaftsleistung.

Gleichzeitig bedarf es grundlegender ethischer Debatten über die Integrität und Identität der Menschen in der Ära der Künstlichen Intelligenz. Und selbstverständlich müssen die Menschen befähigt werden, sich in einer Welt der Daten, Algorithmen, Netze und Roboter zurechtzufinden und zu behaupten. Anders und vereinfacht gesagt: Das Bildungswesen muss davon abrücken, vor allem Wissen zu vermitteln. Wenn es im Sinne des Transhumanismus schon nicht mehr abwegig erscheint, das Gehirn mit Rechnern und künstlichen Speichern zu verbinden, dann wird Wissen zweitrangig. Entscheidend werden die Kompetenzen und das persönliche Potenzial, aus der „Infosphäre“ das Beste für sich herauszuholen.

Start einer Initiative

Wir müssen diese digitale Zukunft provozieren, wenn wir sie möchten. Aber bleibt uns eine Wahl, wenn wir die Ökosysteme retten und den Menschen auf einem überbevölkerten Planeten ein gutes Leben ermöglichen möchten? Haben wir nicht die Pflicht, nach 200 Jahren Kapitalismus, Raubbau und menschlichen wie sozialen Katastrophen das Ruder um 180 Grad herumzuwerfen? Einfach wird es nicht, angesichts der globalen Kriege und Bürgerkriege, der Lautstärke von Populisten und Despoten, die gesellschaftlichen Fortschritt stoppen und zurückdrehen. Aber es ist möglich. Deshalb ist Erde 5.0 nicht nur ein Buch, sondern Ausgangspunkt einer Initiative, um die Digitalisierung und den technologischen Fortschritt gezielt für eine gerechte, lebenswerte, zukunftsfähige Welt zu nutzen. Ich freue mich auf Vorschläge, konstruktive Kritik und Debatte,

Ihr Karl-Heinz Land

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09/09/2018|Erde 5.0|